Dienstag, 14. Juni 2016

Vitamin D

Heute mal nichts von mir selbst, sondern ein Interview mit einem führenden amerikanischen Endokrinologen. Das Thema ist nach wie vor brisant, weil ich bei meinen Patienten selbst jetzt im Juni noch extrem niedrige Vitamin-D-Spiegel messe.

Hier das Interview:

Vitamin D - Wundermittel oder Modetrend?

Noch vor wenigen Jahren ein Nährstoff unter vielen, gilt das „Sonnenvitamin“ heute fast als Wundermittel. Krankheiten heilen kann Vitamin D zwar nicht, aber es erhält die Gesundheit. Die meisten Menschen haben selbst im Sommer einen Mangel - den man beheben sollte.
Im Gespräch mit science.ORF.at erklärt einer der international führenden Vitamin D-Experten, der Endokrinologe Michael Holick vom Boston University Medical Center, was das „Sonnenvitamin“ so besonders macht und warum auch die Sommersonne meist nicht ausreicht, um genug davon zu produzieren.
Schon als Student hat Holick Calcidiol, die Hauptform von Vitamin D, als auch Calcitriol, die aktive Form von Vitamin D, entdeckt. Seitdem widmet er sich der Erforschung des Vitamins, das streng genommen gar keines ist.
science.ORF.at: Vitamin D in Kombination mit Kalzium ist wichtig für die Knochen - das weiß man schon lange. Aber heute - so scheint es - gibt es kaum eine Krankheit, die das Vitamin nicht verhindern soll? Was ist passiert?
Michael Holick: Im Lauf unserer Forschungen haben wir festgestellt, dass jede Zelle in unserem Körper einen Rezeptor für Vitamin D besitzt. D.h., jede Zelle nutzt den Stoff. Daher ist es sehr wichtig für die Gesundheit, von der Geburt bis zum Tod.
Warum?
Es gibt viele Zusammenhänge. Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele: Schwangere mit einem niedrigen Vitamin D-Spiegel haben eher einen Kaiserschnitt, um ganze 400 Prozent ist das Risiko erhöht. Die Kinder von Frauen, die zu wenig davon haben, bekommen später eher Asthma.
Kinder mit Vitamin D-Mangel leiden öfter an Asthma und im späteren Leben haben sie ein höheres Risiko für Diabetes und Multiple Sklerose. Vitamin D reduziert das Risiko für Darmkrebs, Herzkrankheiten, Typ-2-Diabetes, Alzheimer und Depressionen.
Sind das reine Korrelationen oder kennt man auch den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang?
Die meisten sind Assoziationsstudien. Die erst bekannte stammt aus Finnland: Dort gaben die Forscher Kleinkindern täglich 2.000 I.U. (internationale Einheiten) von Vitamin D. Die Probanden wurden 31 Jahre begleitet. Sie hatten ein um 88 Prozent geringeres Diabetesrisiko als Vergleichsgruppen.
Zu Blutdruck und Herzkrankheiten haben wir selbst eine Studie mit Teenagern gemacht. Sie hatten einen Vitamin D-Mangel. Dann gaben wir ihnen drei Monaten lang täglich eine Dosis von 2.000 I.U. Man sah die Auswirkungen in ihren Blutgefäßen. Dieser direkte Effekt zeigt, dass man später besser vor Herzkrankheiten geschützt ist.
Man sollte also besser in seiner Jugend Vitamin D nehmen anstelle von Blutdruckmedikamenten im späteren Leben?
Ja, man kann Bluthochdruck nicht mit Vitamin D bekämpfen. Aber eine ausreichende Versorgung schützt vor chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck.
Kennt man den biochemischen Mechanismus? Wie wirkt Vitamin D?
Vitamin D ist fettlöslich. Wenn es in eine Zelle eintritt, landet es direkt in ihrem Kern und bindet an einen Rezeptor. Wir haben in unserem Krankenhaus eine Untersuchung gemacht, mit mangelhaft versorgten Erwachsenen. Wir haben ihre Blutzellen untersucht und angeschaut, auf welche Gene sich eine zusätzlich Vitamin-D-Gabe auswirkt.
Wir sahen, dass 291 Gene auf den verbesserten Vitaminstatus reagierten. Vitamin D verändert das Immunsystem, verbessert die Reparaturfähigkeit der DNA, was vor Krebs schützen kann. Vitamin D beeinflusst also eine ganze Reihe an Stoffwechselfaktoren.
Also ist Vitamin D tatsächlich „ein Hormon für jede Gelegenheit“ oder doch nur eine Modeerscheinung?
Ich glaube, es ist mehr als ein Trend. Ich habe mir angeschaut, wann in der Erdgeschichte erstmals Vitamin D auftauchte. Offenbar besaßen es schon die frühesten Lebensformen vor 500 Millionen Jahren. Mutter Natur hat anscheinend gesehen, wie wichtig es ist, und dann beschlossen, dass wir es besser über die Sonne bekommen und nicht aus der Nahrung. Alle Lebewesen waren draußen, so war die Versorgung gesichert.
Unsere Vorfahren bekamen vermutlich deutlich mehr Sonne ab als wir?
Ja - und genau da liegt das Problem. Jeder denkt, wenn man gesund isst, bekommt man alle Nährstoffe, die man braucht. Aber es ist so gut wie kein Vitamin D im Essen, mit wenigen Ausnahmen wie z.B. Wildlachs oder unter Sonnenlicht gezüchteten Pilzen.
Die einzig maßgebliche natürliche Vitamin-D-Quelle ist die Sonne. Bei einer Studie an einem afrikanischen Volk wurde gezeigt, dass alle genug Vitamin D haben, trotz der dunklen Haut, aber sie sind meistens draußen. Wir vermeiden die Sonne.
Wie viel brauchen wir denn wirklich? Die Empfehlungen gehen ziemlich auseinander.
Die Endocrine Society empfiehlt für Kleinkinder 400 bis 1.000 I.U., für größere Kinder 600 bis 1.000, für Erwachsene 1.500 bis 2.000. Im Blutspiegel empfehlen wir zwischen 75 und 250 Nanomol/Liter (nmol/l), 15 mmol/l sind das absolute Minimum, darunter bekommt man Rachitis.
Kann man Vitamin D auch überdosieren?
Es wird irgendwann toxisch. Dann steigt der Kalziumspiegel im Blut und das Kalzium verstopft die Gefäße und die Nieren - das kann zum Tod führen. Aber da müssten sie versehentlich 100.000 Einheiten schlucken, 10.000 auf einmal sind absolut sicher, wie wir in unseren Untersuchungen gesehen haben.
Und wie bekommen wir genug davon? Wie viel müssten wir in die Sonne gehen?
Das hängt von der Jahres- und Tageszeit sowie von Ihrem Wohnort ab. Hier in Wien bekommen Sie mit Sicherheit nicht genug Sonne von Mitte Oktober bis Ende März. Und auch im Sommer können Sie nur zwischen zehn Uhr am Vormittag und drei Uhr Vitamin D durch Sonnenlicht produzieren - in diesem Zeitraum ist aber kaum jemand draußen. Wir haben eine Gratis-App entwickelt, die einem immer anzeigt, wie viel Vitamin D man gerade produziert und wann man aus der Sonne gehen soll, um keinen Sonnenbrand zu bekommen.
Aber die wenigsten gehen noch in die Sonne, und wenn, dann mit Sonnenschutz.
Ja, ein Sonnenschutzfaktor von 30 reduziert unsere Fähigkeit, Vitamin D zu bilden um 98 Prozent. Ich empfehle zwei bis drei Mal die Woche mit Armen und Beinen kurz in die Sonne zu gehen. Gegen Hautkrebs empfehlen wir die am meisten ausgesetzten Körperteile zu schützen, das Gesicht und die Handrücken.
Wobei anzumerken ist, dass die meisten Melanome an Stellen entstehen, die am wenigsten der Sonne ausgesetzt sind. Und Menschen, die viel in der Sonne sind, weil sie im Freien arbeiten, bekommen am seltensten Hautkrebs.
Also sollten wir regelmäßig, aber nicht zu lange in die Sonne gehen?
Ja, auf jeden Fall. Denn abgesehen von Vitamin D produziert man dabei auch Endorphine - man fühlt sich besser. Außerdem sinkt der Blutdruck.
Können Vitamin D-Präparate tatsächlich die Sonne ersetzen?
Sie helfen definitiv, wie meine Untersuchungen gezeigt haben.
Sollten wir im Winter alle Ergänzungsmittel schlucken?
Ich empfehle, sie das ganze Jahr über zu nehmen, außer Sie sind von Beruf Rettungsschwimmer. Meine Patienten erhalten durchgängig 2.000 bis 3.000 Einheiten, Kinder 1.000.
Manche Nahrungsergänzungsmittel lassen sich nicht gut aufnehmen, weil sie natürlicherweise nicht isoliert auftreten. Ist das bei Vitamin D kein Problem?
Zum Glück funktioniert es ganz auf sich allein gestellt, weil es ein Hormon ist.
Ist es tatsächlich ein Hormon?
Ein Hormon ist ein Stoff, den man selbst produziert. Die Tatsache, dass die Haut Vitamin D mit Hilfe der Sonne erzeugen kann, macht es zu einem Hormon. Auch dass es zur Aktivierung durch Leber und Nieren gehen muss, bevor es im Blutkreislauf landet - definitionsgemäß ist Vitamin D also ein Hormon.
Warum nennen wir es dann nicht so?
Weil Hormon gefährlicher klingt. Eltern wären wohl weniger bereit, ihren Kindern Hormone zu geben. Vitamin klingt viel besser.
Aber Vitamin klingt eben schwächer und viele halten es für unglaubwürdig, dass ein solches so viel können soll.
Ich beobachte ein wachsendes Interesse an Vitamin D. In den vergangenen 15 Jahren sind sicher 50.000 Publikationen dazu erschienen. Und ich bin sicher, da kommt noch mehr. Ich hoffe, dass das eines Tages auch die Gesundheitsbehörden einsehen und die Gesetze ändern, damit man auch in Europa Nahrungsmittel damit anreichern kann.
Wäre das nicht generell besser? Dann entginge man vielleicht dem Vorwurf, dass Vitamin D nur ein weiteres Produkt ist, an dem die Nahrungsmittelergänzungsindustrie Geld verdienen möchte.
Ja, das stimmt. Man muss allerdings genug zusetzen, damit der Bedarf tatsächlich gedeckt wäre. Aber so würde zumindest jeder eine Grundlage erhalten. Ich würde empfehle möglichst viele Grundnahrungsmittel wie Brot, Nudeln, Milchprodukte und Säfte damit anzureichern.
Interview: Eva Obermüller, science.ORF.at